S. Bloemer: Empirie im Mönchsgewand. Naturforschung in süddeutschen Klöstern des 18. Jahrhunderts

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Titel
Empirie im Mönchsgewand. Naturforschung in süddeutschen Klöstern des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Bloemer, Julia
Reihe
Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 54,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Mariss, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Wer an Verfahren der empirischen Wissensproduktion, ihre Akteure und Räume im 18. Jahrhundert denkt, der denkt womöglich zuerst an reisende Naturforscher auf Schiffen, missionierende Jesuiten in Südamerika oder Pietisten in Indien, Sammlerinnen in ihren Naturalienkabinetten oder auch umherziehende Elektrisierer, die Schaulustigen Experimente vorführten, und weniger an Mönche, die in ihren Klosterstuben Wissen über Natur produzierten. Die vorliegende Monographie von Julia Bloemer, die auf ihrer im Fach Wissenschaftsgeschichte verteidigten Dissertation aus dem Jahr 2021 beruht, trägt dem Desiderat Rechnung, Mönche und Klöster als Akteure und Orte der frühneuzeitlichen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zu untersuchen. Die zentrale These der Arbeit lautet, dass der monastische Naturforscher durch seine spezifische Lebensweise die Anforderungen aus der Gelehrten- und Klosterwelt zusammenführte und in der süddeutschen Wissenslandschaft vor 1800 zu einer „prägende[n] Figur“ wurde (S. 11). Zu den untersuchten Themen gehörten vor allem diejenigen Bereiche der Naturforschung, die sich den beobachtenden, messenden Verfahren zurechnen lassen, und sich in den Klostermauern mit Hilfe von Instrumenten betreiben ließen, wie die Meteorologie und Astronomie. Dass naturforschende Mönche die Klausur aber immer wieder auch verließen, zeigt Bloemer am Beispiel weniger zu erwartender Praktiken wie dem sogenannten „Gewitterschießen“, dem Versuch, Gewitterwolken mit Hilfe von Kanonenschüssen umzulenken, und Experimentalvorführungen mit Elektrisiermaschinen.

In der ausführlichen Einleitung umreißt Bloemer souverän die Forschungskontexte zur Naturforschung im 18. Jahrhundert und im Kloster, die in der Arbeit zusammengeführt werden, und führt zentrale Begrifflichkeiten ein. Das Kloster wird dabei nicht als losgelöst von „weltlichen“ Wissenskulturen begriffen, sondern durch ihre Akteure als eingebettet in den Kommunikationsraum der Gelehrtenrepublik sowie der Universität, aber auch in lokale, ländliche Strukturen im süddeutschen Raum. Damit trägt die Studie der neueren Wissens- und Wissenschaftsgeschichte Rechnung, die die Produktion von Wissen als einen räumlich bedingten Prozess versteht.

Die Studie ist schlüssig in drei Teile gegliedert, in denen fallbeispielhaft die unterschiedlichen soziokulturellen Kontexte der monastischen Naturkunde beleuchtet werden. Im ersten Teil stehen die gemeinschaftlichen Strukturen der „Naturforschung im Kollektiv“ in den süddeutschen Akademien sowie innerhalb des Klosters am Beispiel der Wetterbeobachtung im Vordergrund. Bloemer macht hier das von der US-amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston geprägte Konzept des „kollektiven Empirismus“1 fruchtbar, um die Arbeitsweisen der Mönche und Chorherren in ihrer sozialen und räumlichen Situiertheit zu untersuchen. Denn die monastische Lebensweise begünstigte das wissenschaftliche Arbeiten im Kollektiv insbesondere in Hinblick auf historiographische Großprojekte und Editionen sowie die Erhebung und Sammlung meteorologischer Messdaten, die von der Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit der Mönche besonders profitierten. Dabei standen die Wetterbeobachtungen und -aufzeichnungen durchaus auch in einem Widerspruch zu ihren täglichen geistlichen Aufgaben, die auf Betreiben von Theologen wie dem Geistlichen Rat Franz Xaver Epp sogar den wissenschaftlichen Praktiken angepasst wurden. Dieser „Bedeutungsverschiebung von Gelehrsamkeit gegenüber Gebet im Mönchtum“ (S. 117) stand jedoch das großflächige Scheitern der geistlichen Akademieprojekte gegenüber, denen es an der Unterstützung durch die Ordensoberen mangelte.

Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich am Beispiel von Instrumentensammlungen und Observatorien mit der wissenschaftlichen Infrastruktur des Klosters. Hier dient die Beobachtung des Venustransits von 1761 im Augustiner-Chorherrenstift Polling dazu, die konkreten Infrastrukturen innerhalb des Klosters „als Voraussetzung für monastische Naturforschung“ zu analysieren (S. 37). Kloster Polling verfügte nicht nur über eine 80 000 Bände umfassende Bibliothek, die zweitgrößte in ganz Kurbayern, sondern auch über die finanziellen Mittel, eine umfangreiche Sammlung wissenschaftlicher Instrumente anzulegen. Für die Beobachtung des Venustransits erging eigens eine Bestellung des für die Messung nötigen Sextanten nach Paris. Allerdings stellte sich das Instrument schon kurze Zeit später als defekt heraus, sodass Goldhofer seine Beobachtungen mit einem fehlerhaften Instrument durchführen musste. Der mikrohistorische Blick auf das Kloster zeigt, dass hier neben den technischen Voraussetzungen der Beobachtung auch die klerikalen Hierarchien eine wichtige Rolle spielten. So verwehrte der Pollinger Probst dem im Kloster tätigen Astronom Prosper Goldhofer eine Reise an die Münchner Akademie der Wissenschaften, um den Venustransit zu beobachten, und beanspruchte am lang erwarteten Tag des Venustransits das für die Beobachtung ebenfalls nötige bessere Teleskop für sich, um das astronomische Ereignis mit eigenen Augen verfolgen zu können. So musste Goldhofer auf ein schlechteres Gerät zurückgreifen, um den Egress, den Austritt der Venus vom Sonnenrand, zu beobachten. Neben der kostenintensiven Anschaffung von Instrumenten und der häufig repräsentativen Einrichtung von Sternwarten als Prestigeobjekten von Prälaten sieht Bloemer den brieflichen Austausch unter den Mönchen als charakteristisch für die monastische Naturforschung an.

Praktiken des Experimentierens und Demonstrierens und damit die Bedeutung der monastischen Gelehrten für die „Naturforschung vor Publikum“ stehen im Fokus des dritten und letzten Teils der Studie. Dass die Vorführung von Experimenten in der Öffentlichkeit einen zentralen Bestandteil aufklärerischer Wissenskultur bildete, ist seit der einschlägigen Publikation von Oliver Hochadel bekannt.2 Dass aber auch in der Klausur lebende Mönche sich dieser öffentlichkeitswirksamen Darstellung und Vermittlung von Wissen vor allem im Bereich der Elektrizität widmeten, stellt eine neue Erkenntnis dar. Diese Demonstrationskultur wird von Bloemer als Interaktion von Mönchen und Chorherren mit einem Publikum beschrieben, das sich aus wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Akteuren zusammensetzte, wie protestantischen Gelehrten, Reisenden zu Besuch oder auch den Klosterschülern. Monastische Naturforschung führte so zu einer Öffnung des Klosterlebens. Gleichwohl waren dieser Öffnung auch Grenzen gesetzt: Als Experten für die Frage des Wetterschießens und Gewitterläutens fanden Mönche in den Publikationen von Akademien und Gelehrtengesellschaften oder auch als wissenschaftliche Berater am Münchner Hof kein Gehör.

In der abschließenden Synthese stellt Bloemer zwei zentrale Ergebnisse ihrer Studie heraus. Als eines der Charakteristika monastischer Naturforschung sieht sie die „Binnen-Zentrierung“, die aus der Kombination von Naturforschung und Klosterleben folgte und den hierarchischen Ordensstrukturen stets verhaftet blieb. Da nur ein Bruchteil dieser Gelehrsamkeit von einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert worden sei, prägte sie vor allem die süddeutsche Wissenslandschaft und hier insbesondere meteorologische Wissensbestände. Interessant ist auch die Erkenntnis, dass naturtheologischen beziehungsweise physikotheologischen Reflexionen innerhalb dieser Lebens- und Gelehrtengemeinschaft keine größere Bedeutung zukam. Zum zweiten zeichne monastische Naturforscher im 18. Jahrhunderte ihre „Rollenpluralität“ aus (S. 237). Bloemer unterfüttert ihre Überlegungen in der Einleitung mit älteren soziologischen Rollentheorien nach Erving Goffmann oder auch Uta Gerhardt (S. 34f.). Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den methodischen Problemen dieser Theorien, etwa die Frage nach der sozialen Determiniertheit von Rollen oder auch nach ihrer Anwendbarkeit auf vormoderne Gemeinschaften und Lebensweisen, erfolgt jedoch nicht. Sicherlich ist der Befund, dass sich aus der Lebensweise des monastischen Naturforschers unterschiedliche Rollen als Mönch, Akademiemitglied oder Astronom ergaben, zutreffend, der analytische Mehrwert der Theorie bleibt jedoch auch im Fazit etwas unklar. Ein praxeologischer Zugriff, den Bloemer in ihrer Studie fruchtbar auf den Kontext der monastischen Wissensproduktion anwendet, erscheint besser dazu geeignet, um danach zu fragen, was bestimmte Akteure taten, welche Objekte sie nutzen und in welchen Räumen sie operierten, um Wissen über Natur herzustellen.

Insgesamt liegt eine sehr gut zu lesende Arbeit vor, die einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Naturforschung im 18. Jahrhundert leistet, indem sie Mönche und Klöster als Akteure und Orte von Wissensproduktion ins Zentrum stellt. Die Fokussierung auf den süddeutschen Raum ist für den Zuschnitt der Studie sinnvoll, legt aber auch eine vergleichende Perspektivierung für andere katholische Territorien und Wissenslandschaften in Spanien, Frankreich und Spanien nahe – eine mögliche Aufgabe für die zukünftige Wissenschaftsgeschichte.

Anmerkungen:
1 Lorraine Daston, The Sciences in the Archive, in: Osiris 27,1 (2012), S. 156–187.
2 Oliver Hochadel, Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung, Göttingen 2003.

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